Videoüberwachung Haltestelle Hauptbahnhof

Videoüberwachung Haltestelle Hauptbahnhof (VII-A-06902) Einreicher: Jugendparlament / Jugendbeirat

aus der Ratsversammlung am 12.09.2023

Stadträtin Gabelmann (Freibeuter): Beim Thema Überwachung kann der Pirat nicht schweigen, auf jeden Fall nicht. Das ist ein Kernthema der Piraten. Sie haben bisher, liebe Kollegen, noch nie die Schlagzeile gesehen: Mutig warf sich die kleine Kamera zwischen den Angreifer und das Opfer. Das hat Gründe.

Zuerst einmal: Wenn Kameras oder auch nur Attrappen irgendwo sind, passiert eine Verdrängung oder Verlagerung. Es unterstellt zuerst einmal, dass der Täter rational abwägen kann und sich von möglicher Entdeckung abschrecken lässt. Das ist aber nicht so. Die Taten, die im Bahnhofumfeld registriert werden, sind größtenteils keine rationalen Wahlhandlungen, sondern Affekttaten, und passieren demzufolge auch so.

Schlimmer noch: Wenn Kameraüberwachung installiert ist, gibt es Gewöhnungseffekte. Menschen gewöhnen sich daran, überwacht und beobachtet zu werden bei jedem Schritt, den sie tun. Wer sich beobachtet fühlt, verändert sein Verhalten, egal ob es sich um Attrappen handelt oder nicht. Und allein, dass potenziell jemand zuschaut, reicht aus, dass wir uns selbst zensieren, um bloß nicht aufzufallen. Die Wissenschaft kennt das als „Chilling-Effekt“.

Außerdem passiert schon jetzt in der Rede eine Stigmatisierung: Leipzigs Hauptbahnhof sei ein gefährlicher Ort, er sei für Touristen nicht sicher, für Menschen nicht sicher. Da müsse man etwas unternehmen. Sicherlich, das können wir nicht wegdiskutieren: Im Bahnhofsumfeld passieren Straftaten wie in jedem Bahnhofsumfeld, in jeder Stadt. Es sei denn, es ist Klein Posemuckel. Das passiert schon.

Videoüberwachung postuliert allerdings auch immer einen Generalverdacht: Sie unterscheidet nicht zwischen üblichem Verhalten und einem begründeten Tatverdacht. Es hat auch Einfluss auf die Zivilcourage und das Anzeigeverhalten. Für Zivilcourage entscheidet man sich in der Frage, ob man sich zuständig fühlt. Wenn aber die Anwesenheit von Kameras suggeriert, es kümmert sich bestimmt schon jemand darum – das wird schon jemand überwachen, hier hängen ja Kameras -, dann mischt man sich seltener ein, und die Bereitschaft sinkt, selbst einzuschreiten und beobachtete Vergehen und Verbrechen anzuzeigen.

Die Wirksamkeit von Videoüberwachung ist gut untersucht. Evaluationsstudien haben festgestellt, dass nur ein geringer bis kein kriminalitätssinkender Effekt da ist. Lediglich bei Diebstählen von bzw. aus Kraftfahrzeugen ist ein Rückgang von bis zu 40 Prozent zu beobachten. Das dürfte jetzt nicht die Problematik in der Nähe des Hauptbahnhofs sein. Taschendiebstähle zum Beispiel verringerten sich lediglich um zwei bis vier Prozent – wobei wir uns dann zumindest einmal die Frage gefallen lassen müssten, warum wir nicht in diesem Fall zuerst den Weihnachtsmarkt überwachen. Auf Gewaltkriminalität zum Beispiel hat Videoüberwachung gar keinen Einfluss.

Die Aufklärung von Taten, also nachdem sie passiert sind, kann kein Argument für Grundrechtseinschränkungen sein. Sonst könnte man ja rein theoretisch alles überwachen, auch unseren Ratssaal hier – außer dem Stream. Das Versprechen, durch Aufklärung Gerechtigkeit herstellen zu können, ändert eben auch nur das subjektive Sicherheitsgefühl. Uns geht es aber um die objektiven Tatsachen.

Wenn wir Geld für Videoüberwachung ausgeben, haben wir auch kein Geld mehr für die Fachkräfte, die wir vielleicht bräuchten, um dort eben Streifen zu schicken. Von den Kosten für Anschaffung, Installation, Wartung, Betrieb und Reparatur profitiert letztlich die Überwachungsindustrie. Ich bin auch entsetzt, dass im Ursprungsantrag London als positives Beispiel genannt wird. London ist die Stadt, wo auf einen Einwohner zwei Kameras kommen. Das kann ja nicht das sein, was wir haben wollen.

Von daher plädiere ich für Ursachenbekämpfung. Einige haben vielleicht gelesen, dass ich auch in diesem Sommer einige Erfahrungen mit Gewalttaten machen durfte. Ich kann aus eigener Erfahrung sagen: Ich hätte mir nicht mehr Kameraüberwachung gewünscht, sondern dass die drei starken Männer, die hinter dem Täter her sind, den vielleicht einfach einmal festgesetzt hätten, bis die Polizei kam. – Ich danke Ihnen

(es gilt das gesprochene Wort)