Bildungspolitische Stunde – „politische Bildung“

Bildungspolitische Stunde – „politische Bildung“

Aus der Ratsversammlung am 07.10.2020

Stadtrat Köhler (Freibeuter): “Sehr geehrter Oberbürgermeister! Werte Referentinnen und Referenten! Meine Damen und Herren Beigeordnete! Liebe Kolleginnen und Kollegen Stadträte! Liebe Zuschauer im Saal und am Live-Stream und natürlich auch die Pressevertreter! Zunächst einmal einleitend: Ich bin groß geworden mit zwei dogmatischen Richtungen, auf der einen Seite mit dem Katholizismus, der mich in meiner Kindheit geprägt hat, dann natürlich mit der DDR, die meine Jugend geprägt hat, und auf der anderen Seite mit einem humanistischen und freien Weltbild, das am Küchentisch gelehrt wurde.

Seit 31 Jahren – ich sage jetzt wirklich: 31 Jahre – haben wir die Möglichkeit, dieses humanistische Weltbild auch umzusetzen. Aber es hakt eben immer.

Entschuldigung, Herr Kriegel, entweder sind Sie etwas älter als ich oder ich bin älter, das kann sein. Ich stehe also hier als wahrscheinlich der Älteste heute Abend in diesem Forum, und von der Sache her und aus dem Wissen heraus, dass über alle Beteiligungsformen, Akteure usw., schon geredet wurde – das ist immer der Vorteil als letzter Redner -, will ich ein bisschen auf meine Meinung zur politischen Bildung eingehen.

Da fange ich einmal ganz anders an, nämlich nicht 1945 und nicht 1920, sondern ich sage mal so: Der Beginn des Zeitalters der Aufklärung liegt nun schon 300 Jahre in der Vergangenheit, doch ihre Themen sind meiner Meinung nach immer noch aktuell wie eh und je. Immanuel Kant, selbst einer der großen Aufklärer, definierte die Aufklärung hierbei wie folgt:

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen.

Was hat das mit der politischen Bildung zu tun? – Ich nehme jetzt mal die einfache Definition aus Wikipedia, aber die anderen Definitionen stimmen weitgehend damit überein: Das Ziel der politischen Bildung ist,

Zusammenhänge im politischen Geschehen zu erkennen, Toleranz und Kritikfähigkeit zu vermitteln und zu stärken, damit zur Herausbildung und Weiterentwicklung von aktiver Bürgerschaft, gesellschaftlicher Partizipation und politischer Beteiligung beizutragen.

Punkt, Ende, aus. Es ist das Ziel der politischen Bildung, Menschen zu befähigen, dem Kernprinzip der Aufklärung zu folgen, sich also selbst eine Meinung zu bilden.

Politische Bildung ist nicht zu verwechseln mit politischer Erziehung, welche schnell in Indoktrination umschlagen kann. Manche unter uns kennen das noch: Staatsbürgerkundeunterricht und Ähnliches. Man kann auch Religionsunterricht hinzuzählen. Hier wurde die Leitung des Verstandes, wie Kant es ausdrückt, durch die Aussagen von politischen, im Besonderen auch religiösen Führungen ersetzt. Das Ziel ist – egal, wie positiv es ausgedrückt wird oder mit welchen fortschrittlichen Ideen initiiert – eine Überlagerung der individuellen Meinung und stellt somit einen Herrschaftsanspruch dar.

Ich möchte hier explizit auf den Art. 21 des Grundgesetzes hinweisen:

Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.

Sie wirken mit. Das bedeutet im Sinne der politischen Bildung, dass keine Partei einen Anspruch auf eine direkte Einflussnahme auf dieselbe besitzt.

Beschränken wir also die politische Bildung auf die Vermittlung der Kenntnisse über das demokratische System unseres Landes und die Fähigkeit zur Nutzung der Instrumente der Demokratie durch die mündigen Bürgerinnen und Bürger, natürlich auch mit der Erkenntnis, dass Demokratie Beteiligung erfordert und Beteiligung Anstrengung erfordert. Wie können wir dann extremistische Meinungen verhindern? – Für mich steht hier das in meiner Kindheit und Jugend erlernte humanistische Menschenbild in seiner einfachen Form im Vordergrund. Ein Mensch ist ein Mensch – so, wie es in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 heißt:

Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.

So, wie es auch das Grundgesetz im Art. 3 – wenn auch im Kontext etwas anders – ausdrückt:

Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.

Ich möchte das „vor dem Gesetz“ weglassen und sage einfach: Alle Menschen sind gleich.

Auch religiöse Definitionen kann man gelten lassen, wie zum Beispiel das „Liebe deinen Nächsten so wie dich selbst“ aus dem Neuen Testament. Ich weiß, Herr Jung als studierter Religionslehrer verzieht hinter mir jetzt das Gesicht, wenn ich über Religion rede, aber das ist nicht so schlimm.

Der Begriff „Nächster“ ist hier zwar nicht definiert, er schließt aber auch niemanden explizit aus. Problematisch an diesem Satz ist für mich, dass man sich selbst – allerdings nicht im narzisstischen Sinne – lieben muss, um andere Menschen zu lieben. Das ist leider nicht selbstverständlich im Zeitalter der allgemeinen Unzufriedenheit. Ich erinnere hier an das bekannte Internet-Meme, in dem Jesus predigt: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“, und einer der Zuhörer fragt: „Und wenn er schwarz ist oder schwul?“ Und Jesus sagt: „Hast du etwas an den Ohren?“

Auch die Achtung der Natur ergo der Umwelt sowie der anderen Lebewesen lässt sich ohne Indoktrination vermitteln. Allein die Vermittlung der Lebensnotwendigkeit einer intakten Umwelt für die Menschen sollte dort für den Anfang ausreichend sein. Wenn – hier komme ich wieder auf den religiösen Aspekt zurück – jemand lieber von der Bewahrung der Schöpfung spricht, dann ist das auch akzeptabel, solange jede Schöpfung gemeint ist. Märchenhaft ausgedrückt: Rotkäppchen, die Großmutter, der Jäger, der Wald, der Wolf und auch die frische Luft.

Warum dieser Exkurs in die Bildungsphilosophie? – Friedrich Nietzsche ließ seinen tollen Menschen durch die Straße laufen und rufen: „Gott ist tot!“. Ich möchte hier nicht postulieren müssen: Die Aufklärung ist tot.

Wir erleben heute wieder die Versuche der Indoktrination, egal, von welcher politischen Seite. Das ist gefährlich, weil es die Freiheit des Denkens einschränkt und letztlich das Denken behindert. Der indoktrinierte Mensch folgt den Lehren. Er hinterfragt nicht, er lässt keine Meinung außer der angeblich eigenen, die nicht wirklich seine ist, zu und verteidigt diese mit allen Mitteln. Der indoktrinierte Mensch ist kein freier Mensch. Er unterliegt der Herrschaft des Meinungsführers. Passend dazu ein Zitat aus „Der Eunuch“ von Johannes Tralow; den kennt wahrscheinlich niemand. Er lässt seine Protagonistin Julienne sagen:

Sie sagten, die Sklaverei sei die tiefste Erniedrigung und vollständigste Ausbeutung, zu der Menschen jemals gezwungen wurden oder zu der sie sich hergaben. Für mich ist der letzte Zusatz „oder sich hergaben“ das Schrecklichste. Der Verzicht auf die Nutzung des eigenen Verstandes im Sinne der Aufklärung ist für mich das Sich-Hergeben in geistige Sklaverei. Demokratie braucht aber den im Sinne der Aufklärung freien Menschen, der ohne die Leitung eines anderen seinen Verstand benutzen kann. Die Aufklärung braucht keinen Aufklärer, der Menschen erklärt, wie sie zu denken haben. Dieser wäre eine Absurdität.

Danke.”

(Es gilt das gesprochene Wort)